Beschreibung:

267 Seiten; 27,5 cm; klammergeh. Orig.-Halbleinenband.

Bemerkung:

Gutes Ex.; Gebrauchs- u. Lagerspuren; Einband berieben; Seiten etwas nachgedunkelt; Klammerheftung rostig. - Einband von Heinz Unzner. - Egon Friedell (gewidmet). - " Geschrieben 1936 bis 1941 " // " Eine künftige Kulturgeschichte, die in umfassenderer Weise, als es in den hier folgenden Skizzen geschieht, die geistigen Ergebnisse des Materialismus untersucht, wird zu der Feststellung gelangen, daß kein Jahrhundert dem ihm folgenden eine verhängnisvollere Erbschaft hinterlassen hat, als das 19. dem 20. Jahrhundert. Man kann dabei berücksichtigen, daß das 19. Jahrhundert selber keine entscheidende Substanz in seiner Wiege liegen hat: es übernimmt den morbiden Charakter der Enzyklopädisten, die rührseligen Verlogenheiten eines Rousseau, die vergiftete Atmosphäre Voltaires, die konstruktive Enge eines Kant. Der eben verklungene, unermüdliche Schlag des herabstürzenden Fallbeils wird im Beginn des Jahrhunderts von den schneidenden Clairons der Napoleonischen Heere abgelöst, französische Kriegsgewinnler brandschatzen die europäischen Nationen, und die europäischen Freiheitskriege, die um 1814 enden, haben die entgegengesetzte Wirkung jenes Krieges, der nach genau hundert Jahren seine Fortsetzung ist: nach 1814 sinkt Europa als einziger riesiger Polizeistaat, dessen höchstes Prinzip die Ordnung ist, in einen Schlaf, der trotz zahlloser Grenzen ohne Grenzen ist. Erst im letzten Drittel erwacht dieses Jahrhundert, aber der muffige Geruch eines schlechtgelüfteten Schlafzimmer-Milieus haftet seiner Geistigkeit bis zum Beginn des Weltkrieges an. Man könnte nachsichtiger sein und das Erbe fatalistischer betrachten, wäre nicht gerade das 19. Jahrhundert das arroganteste, auf seine Leistungen eingebildetste gewesen. Seine gesamten wissenschaftlichen Leistungen leiden nicht nur unter der eigenen maßlosen Überschätzung, sondern etwas sehr viel Gefährlicheres verdunkelt ihren Wert: die Mechanisierung und Merkantilisierung allen Geistes, die Herabwürdigung aller Wissenschaft zum Handlanger seiner technisierten und industrialisierten Wirtschaft, die in immer hypertrophierteren Zielen die vollkommene Brandschatzung der Menschheit zum Ergebnis hat. Diese "Menschheit" ist das raffinierteste Blendwerk, das die europäische Dämonie erfindet: in ihren Namen kann diese Dämonie ihre völlige Gleichgültigkeit am Schicksal des Einzelnen genau so geschickt verstecken, wie sie diese Gleichgültigkeit später mit ebenso brutaler Offenheit zugibt. Im Namen dieser Menschheit geschieht das Sonderbarste und Unglaublichste: während die Verelendung der durch die aufstrebende Maschinenindustrie brotlos gewordenen Massen prozentual von Jahrzehnt zu Jahrzehnt steigt, gewinnt das Traumbild einer durch diese Industrie einstmals reich und glücklich werdenden Menschheit immer mehr utopische Gestalt: im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Vollendung, soll diese Menschheit ihr Ziel erreicht haben. Mit dem Jahr 2000 soll das Paradies auf Erden beginnen. Wir haben bald das fünfte Jahrzehnt dieses 20. Jahrhunderts beendet, aber in jedem dieser vergangenen Jahrzehnte sind wir wie um ein Jahrhundert in die Zeit zurückgesunken: die hochgerühmte Technik erweist sich als ein Mordmittel, das sich gegen diese Menschheit kehrt, die Maschine hat Weltteile verarmen lassen, die Ergebnisse einer Wissenschaft foltern die Menschheit mit ihren todbringenden Errungenschaften bis in ihre Träume hinein. Die totale Verknechtung des einzelnen Menschen, seine Robotisierung, seine letzte seelische Entgeistigung hat ein Niveau erreicht, das tief unter dem Verstümmelungstrieb eines schlichten afrikanischen Negerstammes steht. Wäre uns nur das Schicksal beschieden, Kinder von Hochstaplern und Ignoranten zu sein, man könnte sich trösten und in einem kleineren Milieu neue Ziele suchen. Aber selbst dieses bescheidene Schicksal ist uns verwehrt: der theoretische, aus der vollkommenen Sattheit ästhetisierende Pessimismus des 19. Jahrhunderts ist in sein praktisches Stadium getreten: der Pessimist, zugleich auch der Positivist dieser Zeit, ist die Autorität unserer Philosophie: er erwartet nichts, er erhofft nichts, er will nichts - er konstatiert und geht an den Irrtümern seiner Konstatierungen zu Grunde. Das gesamte Denken dieser von der Dämonie zerstalteten Menschheit stimmt nicht mehr: dies ist das furchtbare Erbe des 19.Jahrhunderts. Unserem Denken fehlt jede Autorität. Die gesamten Denkautoritäten, mit denen das 20. Jahrhundert zu denken begann, haben versagt. Wir sind nicht mehr Pessimisten aus Klugheit, aus der Distanz zur Situation, aus einer Überlegenheit, sondern aus nacktester Not: das Leben, das schon von unseren Vätern als sinnlos bezeichnet wurde, hat auch den Sinn des Sinnlosen verloren. ? " (S. 9/10)