Beschreibung:

Qu.-8°. 72 S. : überw. Ill., gebundene Ausgabe.

Bemerkung:

Bei seinem hoffentlich letzten (der allerletzte, dachte er, wird ein anderer) Umzug in den wohlverdienten Bungalow am Hang mit Sonnenterrasse fiel einem Psychoanalytiker ein 30 Jahre altes Flugblatt aus seinen Studententagen in die Hände: darauf die Forderung nach sofortiger Befreiung aller Geisteskranken und der Abschaffung der Psychiatrieknäste, verfasst anlässlich einer Exkursion nach Triest, dem Mekka der Antipsychiatrie. Auf der Rückseite des Flugblattes konnte er 16 Namen entziffern. Erst zum Spaß setzte er sich in der darauffolgenden schlaflosen Nacht vor den Laptop und recherchierte die Adressen der 15 anderen. Dann kam ihm, und es fiel ihm erstaunlich leicht, diesen Tagtraum zuzulassen, die Idee: Ich möchte affe.wiedersehen... Eigentlich wäre das vergilbte Papier beinahe im Papierkorb gelandet und für immer verschwunden. Genauer gesagt befand es sich bereits dort, weggeworfen mit einigen der Zettel und Papiere, die man anlässlich eines Umzugs dann, da man sie nie wieder gelesen hat, endlich beruhigt entsorgen kann. Aber irgend etwas ließ mich dann doch noch einmal zum Papierkorb gehen und nachsehen. Vielleicht war es die nur zur Hälfte noch lesbare italienische Überschrift: Liberazione per tutti! Langsam fiel es mir wieder ein: Es war in Triest vor über dreißig Jahren. Ein Flugblatt, das unsere Gruppe, allesamt aktiv in der Antipsychiatrie-Bewegung, damals verfasst hatte. Und auf der Rückseite, ja, da waren die Namen und die Adressen. Wir wollten als Gruppe weiterarbeiten und uns weiter engagieren: für die Befreiung aller Internierten aus den unmenschlichen Klauen der Psychiatrie kämpfen, mit der blauen Karawane über die Alpen ziehen, die Irrenoffensive starten, den Kapitalismus und die entfremdete Arbeit, die Ursache des psychischen Elends der Arbeiterklasse, abschaffen. Die Dinge waren dann anders gekommen, wir hatten uns bald völlig aus den Augen verloren. Die meisten gingen wohl längst ehrbaren Berufen nach. Taten sie das? Vielleicht wäre es doch nicht uninteressant herauszufinden, was so aus den 16 Anderen geworden ist, die damals mit dem VW-Bus des alternativen Reisekollektivs Erich Mühsam zu dem Meeting in Triest aufgebrochen sind. Schließlich siegte meine Neugier, und ich begann zu recherchieren, was nicht einfach war; aber dank einiger Mühen und dem Internet gelang es mir, alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Reise mit Adresse herauszufinden, was verwunderlich genug war. Noch verwunderlicher war die einhellige Bereitschaft aller, nach dreißig Jahren die Reise wiederholen zu wollen. Wieder eine gemeinsame Anreise mit dem Bus, aber diesmal mit Comfort-Tours, und ein Wochenende im Hotel Belvedere Borghese und nicht in einem Gewerkschaftsheim. Die Reise geriet zu einem Erlebnis mit Hindernissen. Am Brenner ging dem Bus der Diesel aus, bei Verona den Insassen das erste Mal der Wein. Ich war bemüht, bei all dem einen klaren Kopf zu bewahren, wollte ein Reisetagebuch schreiben, einen Bericht, was aus den Einzelnen geworden ist, denn alle 16 wurden auf verschlungenen Wegen Psychoanalytiker. So wurden im Verlauf der Reise viele Geschichten erzählt, alte und neue, glaubwürdige und unglaubliche, und ich versuchte, möglichst viel mitzukriegen von dem, was jeder über sich erzählte. ISBN 9783860998557