Beschreibung:

22 Seiten. Broschiert.

Bemerkung:

Aus der Bibliothek von Prof. Wolfgang Haase, langjährigem Herausgeber der ANRW und des International Journal of the Classical Tradition (IJCT) / From the library of Prof. Wolfgang Haase, long-time editor of ANRW and the International Journal of the Classical Tradition (IJCT). - sehr guter Zustand - Widmung von Wolfgang Schadewaldt an Wolfgang Haase - Wenn ich es heute abend unternehme, von Homer und dem Dichterischen zu Ihnen zu sprechen, so lassen Sie mich zunächst über das Dichterische als den umgreifenden Horizont dieser meiner Homerbetrachtung eine Bestimmung treffen. Das Dichterische, wie sich mir im lebenslangen Umgang mit Dichtung immer neu bestätigt hat, wirkt sich zwar schöpferisch im Sprachlichen aus, wird aber nicht vom Reden, Sprechen her konstituiert. Es entspringt nach meiner Überzeugung vielmehr dem inneren Sinn eines Sehens, eines produktiv intuitiven Sehens, das in der uns umgebenden Erscheinungswelt die Grundzüge einer tieferen, eigentlicheren Wirklichkeit wahrnimmt. -- Dichtung ist nach dieser Bestimmung von Redekunst zu unterscheiden. Diese tritt seit ältesten Zeiten zwar auch im poetischen Gewand auf, übt dabei wohl auch die Kunst der Versifikation und hat sich früh, im Griechischen bei Euripides, zumal auch die Bühne erobert. In den Literaturen der Neuzeit hat sie als Publizistik, Belletristik, Essayistik hohe Leistungen hervorgebracht. Doch wird sie primär nicht so sehr von einem intuitiven Sehertum, sondern von dem, oft umfassenden, Weltverstand geleistet, der sich in den Bezirken der bereits gesichteten und entdeckten Welt bewegt. Redekunst hat sich so, sofern sie verantwortungsvoll die brennenden Fragen der Gegenwart angreift, zu einer nicht zu missenden, bedeutenden Zeitmacht erhoben. -- Der Dichter aber, in dem von mir gemeinten ursprünglichen und eminenten Sinn, ist zunächst ein Sehender. Er mag nicht viel anders als andere Sterbliche durch die Welt gehen. Doch werden ihm schon im gewohnten Alltag Strukturen, Konstellationen, Konfigurationen von tiefer Richtigkeit und Gültigkeit transparent. Wo für den anderen nur Dinge, Personen, Zustände, Begebenheiten und Vorgänge da sind, stellen sich dem inneren Auge des Dichters Gebilde, Gestalten, Situationen, Ereignisse dar: gründende und tragende Konstituentien der Natur und der Gesellschaft, der Seele und des Denkens, des Handelns, Leidens, des Geschehens. Ein spezifischer Sinn ist in diesem dichterischen Sehen am Werke.